Es ist ein langer Prozess, das eigene Bild von sich zu verändern. Es passte einfach nicht in mein Selbstbild, mit Stock
zu gehen, bis mir eine Freundin sagte: „Es ist eine Schande, dich so durch die Gegend tasten zu sehen. Du bist doch sonst so
selbständig.“ Da habe ich gemerkt, dass das Bild, das ich von mir habe, so nicht mehr stimmt. Ich musste lernen, dieses Bild
von mir mit Stock zu akzeptieren und mich damit wertvoll, liebenswert, souverän, mit einem Wort: normal zu empfinden. Das
war eigentlich der entscheidende Schritt, zu realisieren, dass es nicht darum ging, was andere mit mir machen, sobald ich
diesen Stock habe, sondern was ich damit verbinde, und wie ich mich damit empfinde. Vielleicht haben wir Späterblindenden es
so schwer, weil wir in Bildern denken. Dieses Bild „ich mit Stock“ konnte ich einfach so lange nicht akzeptieren, bis eben
jene Freundin sagte: „Du bleibst die gleiche auch mit Stock, du bist nur jetzt nicht mehr du. Du bist momentan ein Schatten
deiner selbst.“ Ich hatte bis dahin diese unbestimmte Angst, dass, sobald ich den Stock in der Hand hätte, er sichtbar
würde, sich automatisch die Welt um mich herum verändern würde. Nun wurde mir allmählich klar, dass das etwas war, was sich
in meinem Kopf abspielte, was etwas mit meinem Bild von Menschen mit Stock zu tun hatte. Paradoxerweise trug ich den Stock
schon lange zusammengeklappt und gut versteckt mit mir, als Zeichen, wie verantwortungsvoll ich mir gegenüber war. Falls ich
einmal nicht mehr klar käme, hätte ich ihn ja bei mir. Es war schon ein großer Schritt, ihn dann manchmal, wenn wirklich
kaum noch etwas ging, zusammengeklappt in der Hand zu tragen. Ich merkte sofort die Erleichterung, weil einem die Menschen
verständnisvoller begegneten. Auch blickte oder besser hörte ich in den letzten zwei Jahren schon immer ganz neidisch auf
Menschen mit Stock, denn ich spürte, dass diese mir um Meilen voraus waren. Dass sie das schon geschafft hatten, wozu ich
noch nicht in der Lage war.
Bis ich mich also dazu durchgerungen hatte, mich zum Orientierungs- und Mobilitätsunterricht anzumelden, waren vier Jahre vergangen. Vier Jahre (mit Studienabschluss waren es sogar sechs), in denen ich mich letztendlich völlig zurückgezogen und absolut eingeschränkt hatte.
Nachdem ich mich im Frühling 2002 e n d l i c h zum Orientierungs- und Mobilitätsunterricht angemeldet hatte, konnte
ich es kaum noch erwarten, dass es losging. Ich spürte jetzt, dass ich nur noch einen Kick brauchte, um zu lernen , wie ich
den Stock in meine Persönlichkeit, in mein Auftreten, in mein Körpergefühl integriere. Ich wusste jetzt, dass ich nur noch
diesen kleinen Schritt brauchte, zu lernen, wie ich mit Stock auftrete. Es geisterten so wirre Vorstellungen in mir, dass
ich, wenn ich den Stock hätte, nicht mehr gucken dürfte. Ich hatte das Gefühl, ich müsse dann auf den Boden gucken - wie
sollte ich mich verhalten?
Als ich dann meine erste Unterrichtsstunde in Orientierung und Mobilität hatte, veränderte sich mein Gefühl zum Stock
ziemlich schnell. Erst einmal zeigte mir mein Rehabilitationslehrer , wie man ihn richtig in der Hand hält. Ich spürte, dass
ich meine eigene Art zu gehen entwickelte, dass ich den Stock in mein Körpergefühl integrierte, und solange mein
Rehabilitationslehrer neben mir ging, konnte ich auch irgendwie ein Spiel daraus machen.
Als ich mich nach der Stunde mit einem Bekannten traf, klappte ich den Stock sofort wieder ein und versteckte ihn in meiner
Tasche. Es fiel mir jetzt aber sofort auf, wie „dämlich“ ich neben meinem Bekannten her tappste, und ihm wohl auch. Sonst
brachte er mich, nachdem wir uns getroffen hatten, immer nach Hause. Diesmal sagte er aber, dass er es leider sehr eilig
habe, dass ich aber ja jetzt meinen Stock benutzen könne. Da stand ich nun mitten in der Stadt, die ich theoretisch ja
kannte, und ärgerte mich. Ich lief los, und als ich in den ersten Tischen mit Stühlen gelandet war, packte mich die Wut. Ich
holte den Stock heraus, und ich schwöre, seit dem gehe ich nur noch mit Stock.
Es war ein unglaubliches Erlebnis. Plötzlich war alles so einfach, und niemand kam mir blöd oder „entmündigte“ mich. Ganz im Gegenteil, ich lief an der Lahn entlang, mitten im Sommer, Menschen über Menschen, Fahrräder, Kinder, keiner war genervt, keiner machte mich blöd an, ich lief nirgendwo gegen, man machte mir selbstverständlich und unkompliziert Platz, ja: Ich gehörte wieder dazu, ich war jetzt wieder normal! Jetzt konnte ich wieder mitfließen, dabei sein, dazugehören, einfach laufen. Ich lief und lief die Lahn entlang, ich wäre am liebsten noch Stunden gelaufen, aber davor hatte ich doch noch ein bisschen Angst. Ich kann dieses Gefühl gar nicht heftig genug beschreiben. Genau das Gegenteil von dem, wovor ich mich fürchtete, trat ein. Die Veränderung war genau umgekehrt. Ich spürte so deutlich, dass ich vorher, in den letzten Jahren, in denen ich nur verkrampft durch die Gegend tappste, nicht mehr dazugehörte; dass ich mich selber ausgrenzte und auf keinen Fall mitfließen konnte!
Natürlich gab es auch komische Momente!
Ich zwang mich von nun an, den Stock immer zu nehmen, auch dann, wenn ich dachte, dass es heute doch vielleicht mal wieder
ohne ihn ginge. Obwohl der Reiz groß war! Ich war mir zu sicher, dass die Gefahr bestand, dass ich ihn dann wieder
weglegte. Jetzt musste ich da durch, jeden Tag, bis es selbstverständlich wurde. Manchmal war ich schon fast aus dem Haus
und merkte, dass ich den Stock vergessen hatte, das passierte am Anfang fast jeden Tag. Zweimal, als ich mit meinen Kindern
mit deren Auto unterwegs war, habe ich ihn wirklich vergessen. Ich spürte einerseits die Freiheit, andererseits aber auch
wieder dieses zögernde Tappsen. Freiheit meine ich, weil es einfach wirklich einen Unterschied gibt, ob ich mit Stock gehe
oder nicht. Ich spüre nach der ersten Euphorie schon ganz deutlich, dass so eine gewisse Mauer oder ein Flair des
Schweigens, der Scham, etwas Bedrückendes um einen herumschwebt - aber o.k., welche Wahl habe ich?
Am Anfang bin ich ganz schnell gegangen. Ich hatte immer Angst, sobald ich stehen bleibe, fragt mich jemand, ob er mir helfen könne.
Das ging dann allmählich weg. Das Gefühl, ich dürfte nicht gucken, hatte ich nie wieder. Ich nutze jetzt automatisch meinen Sehrest, der mir jetzt viel größer erscheint.
Teilweise komme ich mir vor, als sei ich fünf Jahre auf einem anderen Planeten gewesen. Als ich mit meinem
Rehabilitationslehrer Zug fuhr, und er mir die Knöpfe zeigte, auf welche man drücken muss, damit die Türen sich öffnen,
hatte ich innerlich das Gefühl: „Du warst fünf Jahre auf einem anderen Planeten, und die Welt hat sich inzwischen
verändert.“ Es gibt einen Film, in dem jemand nach zehn Jahren aus dem Gefängnis kommt und vor den Linienbustüren steht. Er
wartet, bis sie sich öffnen, weil er nicht weiss, dass man dazu auf einen Knopf drücken muss. Daran musste ich in diesem
Moment denken. Ich kenne Zugtüren nur so, dass man sich mit drei Leuten dagegenwerfen muss, damit sie aufgehen.
Aber jetzt bin ich wieder da! So viele Ängste bauen sich ab, fallen weg, so viele Vermeidungstaktiken lösen sich auf.
Dieses: „Da gehe ich nicht lang“, „Heute ist so schlechtes Licht“, „Mir geht es heute nicht so gut, deshalb traue ich mir
diesen Weg nicht zu!“ Ich muss mir alles so ganz allmählich zurückerobern, aber es geht eben. Ich lasse jetzt los, ich bin
nicht mehr so angestrengt, ich habe dass Gefühl, ich sehe viel mehr, weil ich mich nicht mehr so konzentrieren muss. Es ist
auch ein langsamer Prozess, seine Wahrnehmung auf den Stock überfließen zu lassen, und zu erspüren, was einem dadurch
angezeigt wird, das dauert auch eine Weile. Zu Beginn habe ich überhaupt keine Treppen erspürt, weil ich gewohnt war, mich
mit den Füßen heranzutasten. Jetzt, nach einigen Monaten, merke ich sie durch den Stock. Mein Kopf wird freier für andere
Wahrnehmungen, für Sonne, Wind, Menschen um mich herum.
Es ist ein Loslassprozess und ein Prozess, die Wahrnehmung in den Stock fließen zu lassen. Dadurch werde ich viel
entspannter, nehme viel mehr wahr und kann wieder singen beim Laufen, ich kann wieder „mitspielen“. Ich kann auch, was ich
so unglaublich gern tue, wieder mit meiner Umwelt spielen. Ich möchte nämlich nicht nur von A nach B kommen, sondern mir ist
auch wichtig, mit meiner Umwelt in Kontakt zu sein.