Was ist passiert? Ich habe nach langem Zaudern geschafft, mich als
Behinderte zu outen, habe mich über die wiedergewonnene Souveränität
durch meinen Mobilitäts- und Orientierungsunterricht gefreut und
gleichzeitig unter der Rolle der geouteten Behinderten gelitten.
Ich genoss meinen erweiterten Radius, litt aber viel mehr unter
der zunehmenden Blindheit. Doch langsam und vor allem dadurch, dass
ich meine Gefühle durch das Schreiben von Artikeln
verarbeitete, kam ich in meiner neuen Rolle an.
Das vorläufige Ergebnis ist, dass ich wieder viel mehr laufe, ich
traue mir mehr und mehr zu und ich bin vor allem wieder ich, wenn ich
unterwegs bin. Ich erkunde neue Wege, ich achte kaum noch drauf,
was um mich herum bezüglich der Blindheit passiert, ich bin ganz
bei mir und dann passiert auch nicht viel um mich herum bezüglich
der Blindheit, weil ich sie ja nicht in den Vordergrund stelle.
„Übergangsriten“ und „Entpuppung“, habe ich heute beim Laufen
gedacht!
Ich habe mich lange an der Definition der (schlecht)Sehenden
festgekrallt, das war die „Raupe“!
Ich habe mich an dieser Definition so lange festgekrallt, bis ich
innerhalb dieser Definition nicht mehr weiterkam!
Dann habe ich mich auf den Blindenstock eingelassen und mich
zunächst über die wiedergewonnene Souveränität gefreut. Dann kam aber
ersteinmal dieses Gefühl der Ohnmacht. Ich konnte nicht mehr die
(schlecht)Sehende sein, ich konnte mit dem (schlecht)Sehen nicht mehr
agieren. Aus diesem Zustand heraus nahm ich den Blindenstock, freute
mich über die erweiterte Mobilität, konnte aber die Rolle der blinden
Frau nicht annehmen. Ich sah nur das, was ich jetzt nicht mehr
konnte. Fühlte beim Laufen nur meine Blindheit, war total fixiert
auf diese Blindheit, stellte sie mir und damit anderen zur Schau und
litt darunter. Es begann die bei den Übergangsriten so bezeichnete
Übergangs- bzw. Umwandlungsphase. Der eine Zustand wird verlassen,
eine Umwandlungsphase beginnt und dann doggt man an einen neuen
Zustand an, wird quazi in diesen hineingeboren. Als neue gewandelte
Person hineingeboren. Bei der Raupe nennt sich dieser Zustand
Verpuppung!
Dieser Zustand, diese Phase war sehr schwer, ich fühlte die
Trennung von der Definition der (schlecht)Sehenden und konnte den
neuen Zustand der Blinden lediglich mit Defiziten und Ängsten füllen.
Was entstand war ein tiefes Loch, eine Leere und sehr große Trauer
bis hin zu Resignation. In dieser Phase schrieb ich den Artikel: „RP
Trauerarbeit, Doch so schlimm, wie befürchtet?“! Das Schreiben hat mir
sehr viel geholfen, ich konnte meine ganzen Gefühle loswerden,
verarbeiten und kam dadurch entschieden weiter!
Zunächst stellte ich mir die Frage: „Was kann ich als blinde Frau
eigentlich machen?!“ Ich bin immer noch traurig und leide darunter,
dass ich vieles, sehr vieles und als behinderte Frau noch viel mehr,
nicht machen kann, was nichtbehinderten Menschen möglich
ist. Aber ich entdecke jetzt, was ich trotzdem noch machen k a n n !
Es herrscht jetzt nicht mehr das n i c h t können vor in meinem
Denken, sondern ich entdecke das K ö n n e n !
Ich habe angedockt am Zustand der blinden Frau, ich erkenne,
entdecke, merke, was doch alles möglich ist und was vor allem
jetzt, da ich den Stock benutze noch viel möglicher ist, als in den
letzten Jahren des Festhaltens am Zustand des (schlecht)Sehens!
Ich habe mir ein Tandem gekauft und fahre tatsächlich auch damit! Ich
habe begonnen zu reiten! Ich gehe wieder mehr und immer wieder mehr
in die Stadt in Geschäfte und irgendwann traue ich mich auch
allein in ein Cafe! Es stimmt zwar, dass ich dort wesentlich weniger
machen kann als Sehende aber es stimmt auch, dass ich denke, dass
ich deswegen dort auch nichts zu suchen hätte. Die Zeit der
Umwandlung ist vorbei! Ich habe angedockt, bin neu geboren im
Zustand der blinden Frau! Ich bin also jetzt ein Schmetterling, ein
blinder zwar, aber ein Schmetterling!