Von August 1999 bis Juli 2000 arbeitete ich im geragogischen Dienst eines Altenzentrums in Marburg. Ich bin hochgradig sehbehindert - meine Sehkraft beträgt höchstens noch 1% - und möchte ein wenig darüber berichten, wie sich meine Arbeit mit sehr alten Menschen - d.h. Menschen um die 90 Jahre-unter diesem Aspekt gestaltete.
Meine Aufgabe bestand darin, Bewohner/innen des Altenzentrums zu betreuen, die aus körperlichen oder psychischen Gründen
nicht mehr in der Lage waren am Gemeinschaftsleben teilzunehmen und zu isolieren drohten. Das Ziel sollte sein, einen
Kontakt zu ihnen herzustellen und sie, wenn.möglich, zu motivieren, andere Bewohner/innen zu besuchen, Besuch zuzulassen
oder an Veranstaltungen des Hauses teilzunehmen und sie ggf. dorthin zu begleiten.
Es handelte sich hierbei häufig um Bewohner/innen, die sich schon sehr stark in sich zurückgezogen hatten oder auch
dementiell erkrankt waren.
Das Haus an sich - ein siebenstöckiges Hochhaus mit drei Fluren auf jeder Etage und Platz für 147 SeniorInnen - war
mir nicht fremd, da ich dort seit sechs Jahren ehrenamtlich tätig gewesen war. Ausgehend von meiner ehrenamtlichen Arbeit
in der Pfarrgemeinde Liebfrauen in Marburg habe ich dort einen "Besuchsdienst" aufgebaut dessen Mitarbeiterinnen persönliche
Beziehungen zu einzelnen Bewohner/innen des Hauses aufbauen.
Was ich dort also im geringen Umfang gemacht hatte, sollte ich nun auf circa 30 Bewohner/innen pro Woche ausweiten.
Zu 30 Personen kann man natürlich keine persönliche Beziehung aufbauen und das ist im Rahmen einer hauptamtlichen Stelle
auch gut so. Man lernt automatisch eine gewisse Distanz zu wahren und sich selber so weit es geht aus der Beziehung
herauszulassen.
In der Zusammenarbeit mit Menschen arbeite ich auf der Grundlage des personenbezogenen Konzeptes, den Carl Rogers
(humanistische Psychologie ) entwickelt hat. Das heisst, ich versuche mich empatisch in die Welt des anderen Menschen
hineinzufühlen, so wie sie ihm erscheint. Das bedeutet, dass ich versuche mich vorurteilsfrei und weiterhin ohne zu urteilen
auf die Gefühlswelt eines Menschen einlasse und mit ihm auf seine Reise gehe. Ein wertschätzendes, liebevolles,
ernstnehmendes und akzeptierendes Zu- und Eingehen auf die Gefühls- und Erlebenswelt des anderen hilft diesem
Menschen, sich selber wertzuschätzen und zu akzeptieren und steigert sein Selbstwertgefühl.
Meist wurden die älteren Damen und Herren nach einer kurzen Skepsis sehr vertraut mit mir und erzählten mir stundenlang
aus ihrem Leben, räumten Schränke mit mir ein und aus, kamen mit auf Spaziergänge oder zu Veranstaltungen. Viele mochten
mich wirklich sehr und hatten absolutes Vertrauen zu mir. Der Grund dafür war, dass sie durch meinen Zugang zu ihnen,
Zugang zu sich selbst hatten und gehört wurden. Andere widerum konnten mich überhaupt nicht an sich heranlassen.
Grundsätzlich empfinde ich es so, dass in einer auffordernden Zusammenarbeit mit Menschen meine ganze Phantasie,
Kreativität, Offenheit und auch mein Mut gefragt ist.
Zu Beginn meiner Tätigkeit bekam ich eine Liste mit circa zwanzig Namen dazu die Zimmernummer und ein paar Stichworte
zu den einzelnen Senioren/innen.
Mit meinem Universalschlüssel konnte ich dann zu den Bewohner/innen in die Appartements gehen, die ihre Tür nicht mehr
selbständig öffnen konnten, andere öffneten eigenständig. Ich stand also in der ersten Woche vor zwanzig Türen und wusste
nicht wer (ausser Name ) mich ( nicht ) erwartete, wie das Appartement eingerichtet war, auf welchen Menschen und auf
welchen Raum ich mich einstellen musste. Dabei kannte auch dieser ältere Mensch mich nicht und erwartete, dass ich auf ihn
zukam. In der Regel braucht ein schlechtsehender Mensch immer etwas länger um sich auf neue Räumlichkeiten und Situationen
einzustellen und es ist gut zu sagen: "Guten Tag, ich bin Frau Herrmann, ich brauche jetzt ersteimnal einen Augenblick, bis
ich mich hier zurecht finde". Nur viele der älteren Menschen verstehen das nicht mehr oder es macht ihnen Angst! In diesen
Schwellensituationen, wie ich sie nenne, war ich halt wirklich sehr gefordert und manchmal auch überfordert.Es kann
vorkommen, dass man in ein Appartement kommt und nicht weiss wo sich dessen Bewohner/inn befindet, weil er/sie nicht
reagiert! In solch einer Situation bin ich dann einfach ruhig geblieben und habe mich darauf verlassen, dass ich in wenigen
Sekunden spüren werde, wo sich derjenige befindet und das war auch immer erfolgreich.
Als ein wirkliches Problem in der Zusammenarbeit mit z.B. stark demenzerkrankten Menschen, mit Menschen, die sehr stark in
sich zurückgezogen oder kaum noch ansprechbar sind, stellt sich der fehlende Blickkontakt dar. Diese Menschen drücken sich
oftmals sehr wenig über verbale Kommunikation aus, vieles steht ihnen aber in der Gestik oder in den Augen geschrieben. Man
kann sich mit Hilfe der anderen Sinne sehr tief in einen anderen Menschen hineinfühlen, das ist überhaupt keine Frage, aber
manches geht einem doch durch den fehlenden Blickkontakt verloren. Wenn ich einen Menschen kenne, merke ich wenn er ja sagt
und nein meint, einen fremden Menschen merke ich nicht so leicht an, dass er einen ganz anderen Gesichtsausdruck hat als er
vorgibt. Wenn dann ein mir zunächst nicht sehr vertrauter Mensch sehr verwirrt ist und sein Befinden kaum noch kommunizieren
kann oder gar nicht mehr spricht, können wirkliche Kommunikationsstörungen und Missverständnisse auftreten.
Eine Bewohnerin z.B. konnte zwar noch sprechen, hatte sich aber angewöhnt ihre Kommunikation zum größten Teil über Gestik
abzuwickeln. Zu ihr konnte ich dann sagen: " Nicht nicken Frau soundso, sagen, sonst weiss ich nicht was Sie meinen!" Fiel
ihr das Sprechen aber einmal wirklich schwer, legte ich meinen Arm um - sie und berührte mit den Fingerspitzen ganz leicht
ihren Kopfansatz. Hierdurch spürte ich ob sie ja oder nein schüttelte. Natürlich sagte ich ihr, was ich da tat und fragte
sie ob ihr das recht sei. Dass es ihr ein wenig befremdlich war, habe ich genau gemerkt, aber es gefiel ihr doch zu sehr,
unterhalten zu werden, um es abzulehnen.
Die Möglichkeit, sich beim Betreten eines Appartements rasch einen Überblick darüber zu verschaffen, wie es dem jeweiligen
Bewohner heute geht und adäquat zu reagieren ist nur eingeschränkt gegeben.
Es war nicht möglich vor jedem Besuch das Pflegepersonal zu fragen, wie es der entsprechenden Person aktuell ging und es kam
vor, dass ich in Wohnungen kam, die plötzlich umgeräumt waren, weil der Bewohner ein Pflegebett bekommen hatte und nicht
mehr aufstehen konnte. Ein anderes Mal trug eine Seniorin deutliche Zeichen eines Sturzes im Gesicht und ich ging überhaupt
nicht darauf ein, sondern fragte sie fröhlich nach ihrem heutigen Befinden. Manchmal hilft auch ein kurzer Blick in das
Gesicht eines Menschen um zu sehen, dass er sich heute überhaupt nicht wohl fühlt oder depressiv ist. Sieht man dies nicht
gleich kann es dazu führen, dass man ersteinmal falsch auf ihn zugeht. Es gab auch hier immer mal wieder Bewohner/innen, die
das sehr übel nahmen und mich als Betreuerin ablehnten.
Bilder sind für ältere Menschen oftmals etwas sehr wichtiges. Sie zeigen immer wieder Fotographien von ihren Kindern, Enkeln
und häufig schon Urenkeln, von ihrer Heimat, dem Geburtshaus und das Hochzeitsfoto. Sehr oft haben sie auch ein Gemälde
ihrer Mutter über dem Sofa hängen! Obwohl ich selten überhaupt etwas erkannt habe, sah ich mir diese Fotos immer wieder mit
den älteren Menschen zusammen an, da es sie einerseits freute, ich aber andererseits dadurch sehr viel über diesen Menschen
erfuhr. Die Geschichten, die er zu den einzelnen Fotros erzählte waren wichtig, sie liessen mich einen tiefen Einblick in
sein Verhältnis zu seiner Ursprungsfamilie gewinnen.
Auch wurde oft der Schrank gemeinsam ausgeräumt, neu umgeräumt und jeder Gegenstand hatte widerum seine Geschichte.
Kleiderschränke wurden gemeinsam begutachtet, Ordnung und hübsche Kleidungsstücke bestaunt. Dies ist für ältere Menschen
so wichtig, gerade wenn sie dementiell erkrankt sind Das Sehen - Wiedersehen - der Gegenstände - sie entdecken sie ja
jedesmal neu - verschafft ihnen wieder einen Zugang zu ihrer Persönlichkeit, stärkt sie und steigert ihr Selbstwertgefühl.
Eine Frau mit einer Alzheimererkrankung konnte das schön formulieren: "Da tauchen ja richtige Bilder in mir auf, wenn ich
davon erzähle!" Sie wusste für einen Moment wieder wer sie war, dass sie sieben Geschwiester hatte und wir zählten die Namen
wieder und wieder auf.
Zu Beginn ist es natürlich schwierig, die Bilder anzuschauen, den Schrank zu durchforsten, alles zu begutachten und zu allem
etwas sagen zu sollen. Die traurige Wahrheit aber ist, dass die Welt der älteren Menschen, gerade im Altenheim, sehr klein
ist und man mit der Zeit alle Bilder, Gegenstände, Kleider und Orte an denen sie verschwunden sein könnten, kennt. Man weiss
dann einfach, worauf es demjenigen ankommt, was man loben oder fragen soll, auch wenn man das Kleid oder den Schrankinhalt
nicht sieht. Richtig anstrengend wurde es für mich persönlich immer dann, wenn die "Wie sehe ich aus? - Kann ich so
rausgehen?" - Prozedur losging, die bei älteren Damen aber unausweichlich ist. Sich auf, "das sehe ich nicht so genau"
zu berufen ist völlig zwecklos und wird als "schrecklich" ausgelegt. Sehr verwirrten BewohnerfInnen habe ich schon mal an
den Oberkörper gefasst, um zu sehen ob sie warm genug oder zu warm angezogen waren.
In Geschmackfragen habe ich mich dann aber wirklich herausgehalten. Ich habe die Damen aufgefordert worden Spiegel zu gehen
und selbst zu entscheiden, ob das Haar in Ordnung war oder ihr das Kleid stand Meist musste sowieso ich mir sagen lassen,
dass ich struppig sei, oder dass ich eine andere Frisur tragen sollte.
Natürlich haben sich auch die älteren Herr- und Damenschaften einen Spaß daraus gemacht, zu testen ob ich sie erkannte oder
nicht. Sie wussten bald, dass ich sie hauptsächlich an der Stimme erkannte und es kam tatsächlich ab und zu vor, dass sie
absichtlich schwiegen, wenn ich sie ansprach - auf dem Flur oder im Speisesaal z.B. - damit ich sie nicht erkennen sollte.
Da muss man sich schon einiges gefallen lassen!
Womit ich bei dem Thema wäre, wie die Bewohner/innen auf meine Sehbehinderung reagiert haben.
Es gab schon Situationen, die ich als kränkend empfunden habe. Situationen; in denen Bewohner/innen das Vertrauen zu meiner
Fähigkeit ihnen zu helfen verloren, sobald sie merkten, wie schlecht ich sehe. Sätze wie:
"Ach Entschuldigung, Sie sehen schlecht, ich dachte Sie sind eine Betreuerin. Wohnen Sie auch hier'?", z.B. empfand ich als
nicht sehr angenehm. Diese Frage kam wirklich häufig. Manche älteren Menschen reagieren auch sehr ruppig und ungeduldig,
werden laut und böse, wenn man etwas nicht gleich sieht oder findet andere widerum reagieren ängstlich, weil sie glauben
einem helfen zu müssen und sich selbst doch so hilflos und überfordert fühlen.
Da gab es schon Momente, in denen ich mir erst einmal einen ruhigen Ort suchen und ein paar mal tief durchatmen musste.
Schön war zu sehen, wie intuitiv manche Bewohner/innen reagierten, indem sie mir Dinge, die sie mir zeigen wollten direkt
in die Hand gaben oder manchmal meine Hand sogar dorthinführten, ohne dass wir jemals darüber gesprochen hätten. Wie
selbstverständlich sie es hinnahmen, dass ich widerum alles ersteinmal anfassen musste um es zu erfassen auch sie selbst,
wenn sie mir ihre neue Frisur oder eine Verletzung zeigen wollten.
Mit der Zeit habe ich auch Rollstühle geschoben, Seniorenlinnen mit ihren Rollator oder am Arm herumgeführt, beim Essen und
Trinken reichen und beim An- und Auskleiden ein wenig geholfen, wenn dies gerade zu der Zeit, zu der ich da war, dran war.
Man wird mit sich, mit den Räumlichkeiten und den älteren Menschen immer sicherer.
Bei einem Spaziergang mit einer älteren sehr verwirrten Dame, die ich am Arm führte, kam es einmal zu einer dieser
intuitiven Reaktionen, von denen ich immer sehr beeindruckt war. Sie ging sehr schleppend und ich musste sie arg stützen.
Irgendwann merkte ich, dass vor uns etwas war, Personen, Gegenstände, ich wusste es nicht. Ich tat das, was ich in solchen
Momenten immer tue, ich ging ganz langsam um zu bemerken, was das sein könnte. Plötzlich merkte ich, dass die ältere Dame
mich führte, indem sie mich kaum merklich um das Hinderniss herumzog. Gerade sehr verwirrte ältere Mewnschen reagieren oft
sehr intuitiv. Sie denken eben nicht mehr so viel nach und machen es dadurch nicht so kompliziert. Sie merken aber auch
sofort, wenn man abwesend ist, eigentlich keine Zeit hat oder gerade ärgerlich wird.
So, und die lustigste Begebenheit dann noch zum Schluss!
Eine sehr alte Dame mit einer Alterspsychose hörte immer wieder einmal Stimmern. Diese sangen ihr etwas vor oder sagten
ihr in welchen Raum sie gehen solle um ihre Verwandten zu treffen oder erzählten ihr Geschichten. Manchmal saß sie in ihrem
Sessel und horchte ganz versunken den Stimmen zu. In so einem Moment fragte sie mich einmal: "Haben Sie gehört, was die
gerade gesungen haben - Hören Sie das ?" "Nein", sagte ich, "ich höre das nicht." Da guckte sie mich ganz mitleidig an und
sagte: "Hören tun Sie auch noch schlecht, ich dachte Sie sehen nur schlecht, das ist ja fürchterlich!"
Dies waren natürlich nur Ausschnitte und Aspekte meiner Arbeit mit den älteren Menschen. Für weitere Fragen oder weitergehendes Interesse stehe ich gern zur Verfügung!
Durch meine zehnjährige ehrenamtliche und hauptamtliche Arbeit mit älteren Menschen habe ich in mir eine große Liebe für die ältere Generation entdeckt.
Während meiner Ausbildung zur Klientenzentrierten Beraterin und Supervisorin wuchs der Wunsch in mir, eine Selbsterfahrungsgruppe für Frauen und Männer ab 65 Jahren anzubieten.
Diesen Wunsch habe ich mir nun erfüllt.
Näheres erfahren Sie unter
Selbsterfahrungsgruppe für Frauen und Männer ab 65 Jahren